Grau, teurer Freund ist alle Theorie,
Und „grün“ des Lebens goldner Baum…
Sie kennen diese Aussage Mephistos in Goethes „Faust“ 1. Teil. Seit letzter Woche kann ich diese Feststellung voll bestätigen. Als „stolzer“ Eigentümer einer serienmäßigen Fulvia 1,3 HF Baujahr 1967 träume ich wie viele andere von Werks-1,6 HF-Fulvias – eine von den 40 anschauen, fahren, besitzen – ein unerfüllbarer Traum für „Normalsterbliche“. Ich habe in mehreren lancianews-Berichten in der letzten Zeit über die Geschichte der Werks-Fulvias berichtet, auch welche überlebt haben (siehe Rubrik Titel: „Fulvia nowhere“, „Söldner in Turin“). Und die am 30. April 2010 in Monaco von Bonhams ausgerufenen Ex-Ballestrieri-Fulvia wurde nicht verkauft, bleibt wohl in Japan.
Hut ab – 1. Teil:
Auch wenn meine Bücher und Berichte in lancianews nur einen kleinen Interessentenkreis erreichen, finden sich unter diesen Lesern Lancia-Freunde und Eigentümer, deren Reaktionen die „Mühen“ der Recherchen, Bucherstellung und des „Vertriebes“ vergessen lassen – siehe Bericht „Fulvia everywhere“. Doch der Höhepunkt der Reaktionen war im Winter 2009 eine E-mail aus der Schweiz:
„Guten Tag Herr Marquard
Vor ca. 3-4 Jahren hatten wir schon einmal Kontakt miteinander, da ging es um den Bericht Lancia Fulvia in Österreich.
Ich bin der Besitzer der Fulvia TOE51664 und wollte einige Bilder, die Sie in Ihrem Bericht verwendet haben.“
Ich war wie elektrisiert, denn das war eine einmalige Gelegenheit einer echten Werks-Fulvia auf die Spur zu kommen. Aufgrund meiner Recherchen kannte ich dieses Fahrzeug vom Papier, denn es war 1971 dreimal in Österreich an den Start gegangen – Österreichische Alpenfahrt mit Källström/Haggbom (ausgefallen), Semperit-Rallye mit Munari/Mannucci (Gesamtsieg) und Rallye der 1000 Minuten mit Barbasio/Sodano (nach dem Start zurückgezogen). Ich schickte sofort alle Fotos und Informationen, die ich gesammelt hatte, in die Schweiz, wir tauschen über mehrere Monate jede Menge E-mails aus, nachdem ich um Informationen über die Geschichte der Fulvia bis zum heutigen Tag gebeten hatte.
Originaldokumente der Zulassung auf Lancia vom Februar 1971 – wenige Wochen vor dem ersten Start bei Rallye San Remo 1971 mit Munari/Mannucci
„Ich bin seit über 20, eher 25 Jahren in Besitz der TO E51664. Ich habe die Fulvia in einer Zeit gekauft, wo zum Beispiel ein Fiat 124 Abarth Stradale doppelt so viel gekostet hat wie die GR4 16 V 124 Abarth Werkswagen… Die TO E51664 wurde am 17.2.71 zugelassen auf Lancia Torino und am 29.9.72 verkauft an Fausto Carello. Bekannt unter TONI Carello und späterer Werksfahrer bei Lancia.(Stratos). Die Karosserie hat überall Spachtel, Heck eingedrückt, Türen klemmen und die Fußmulden schauten nach oben in den Fahrerraum. Der jetzige Zustand der Fulvia ist mechanisch komplett überholt, Karosserie wie eh und je….. Lack nicht gut, aber das Auto hat Charme.“
Dazu kamen jede Menge Fotos, welchen den aktuellen Zustand des Wagens zeigten. Endlich etwas zum Anschauen und Vergleichen, z.B. mit der Fulvia # 1006 von Carlo Stella. Sichtlich konnte ich einige Lücken in der Geschichte schließen, sodass sich der Schweizer E-Mail-Freund zu einem mannhaften Entschluss durchrang:
„Was ich Ihnen zusichern kann ist, dass Sie gerne eine Probefahrt mit der TO E51664 machen dürfen. Hoffe das wird dieses Jahr passieren.“
Und es passierte! Auf dem Weg zum RFM-Meeting im Piemont wählte ich den Weg über die Schweiz und stand am 12. Mai 2010 vor der Fulvia TO E51664.
Da stand die Fulvia, total instandgesetzt – nicht restauriert, betriebsbereit, alle Arbeiten akribisch dokumentiert, die Gruppe-4-Verbesserungen hinterfragt und verstanden, was notwendig war, auf den aktuellen technologischen Stand gebracht (z.B. Sicherungskasten). Und schaute aus wie 1971/72 – mit aller Patina im Motorraum, eingedrücktem Heck, „gewellter“ Bodenplatte, 7“-Felgen und Kotflügelverbreiterungen. Kein Museumsstück, denn die Fulvia wird laufend bei historischen Veranstaltungen wie Bergrennen eingesetzt, war auch entsprechend speziell bereift. Ich konnte nur ergriffen rund um das Fahrzeug gehen und staunen – nein, kein Traum – Wirklichkeit! Was man von außen allerdings nicht sehen konnte: Kurzes (Berlina) Getriebe, HF-Lenkung, Lenkungsdämpfer und Sperrdifferenzial!
Und dann kam der Moment der Wahrheit. Bei der Terminbestätigung hatte die E-Mail gelautet: „Der Tag des Donners naht. Habe heute nochmals die Fulvia gefahren.
Bis ich diese aus dem Schlaf wecken kann, vergeht ein langes Husten und nur 2- 3 Zylinder wollen etwas Bewegung rein bringen. Ja, das Benzin ist nicht mehr das gleiche wie früher, es ist sehr schnell schlecht zündbar und stinkt…..
Jetzt aber ist sie bereit.“
Hut ab – 2. Teil:
Start ohne Besonderheiten, Donnergrollen, Röcheln, Plärren bei höherer Drehzahl – die Nachbarn dürften diese Geräusche bereits kennen, es kamen trotz Mittagszeit keine Proteste. Zuerst fuhr der Eigentümer locker, aber mit verhaltener Drehzahl den Motor warm, damit nicht auch noch das Kaltstartverhalten den Anfänger überfordert. Dann durfte ich hinter das kleine Lederlenkrad, kurzer Hinweis: Das da oben auf dem Überrollbügel ist der digitale Tacho! Natürlich brachte ich den Motor nicht zum Laufen, die 48er-Weber sind sehr sensibel, kurz nochmals Fahrerwechsel und bei laufendem Motor ging’s los.
Nach ca. 70.000 km 1,3 HF, einigen hundert Kilometern mit 1,6 HF und 1600 HF glaubte ich naiv eine Fulvia wie diese wenigsten halbwegs bewegen zu können. Man braucht durchschnittlich drei Hände für normales Fahren, wahrscheinlich vier, wenn die Handbremse zu betätigen ist – leider habe ich nur zwei (patscherte). Das Sperrdifferential erfordert eine eigene Fahrtechnik, um die Sperrwirkung in die Kurve hinein mitzunehmen, spätes Einlenken und Gasgeben lassen die Fulvia ungehemmt geradeaus fahren. Dazu die Drehzahlcharakteristik mit der kurzen Übersetzung und ganz kleiner Schwungmasse, d.h. kaum Gas gegeben schon blitzschnell Hochschalten, aber die rechte Hand brauche ich gleichzeitig ganz dringend am Lenkrad!
Es war nicht wirklich schnell, aber laut, eindrucksvoll dynamisch – ich habe TO E51664 unversehrt wieder zurückgebracht, den Motor nicht abgestochen oder abgewürgt. Es war unheimlich beeindruckend, wie weit sich dieses Spezialfahrzeug von einer normalen Fulvia entfernt hat.
Was mich zum dritten Teil führt.
Hut ab – 3. Teil:
Was haben die Werksfahrer dieser Zeit geleistet? Der schmale Grad der Nutzbarkeit auf Straßen aller Art, nicht nur die Kraft zum Lenken, sondern auch die Dauerbelastung der damaligen Rallyes durch Lärm und Federung – zwischen 1.500 und 3.000 schnelle Kilometer in diesem Geschoß zu verbringen, das jede Sekunde Aufmerksamkeit erfordert. Training ja, langsames Wachsen mit den Verbesserungen ja – aber die Summe der Anforderungen lässt mich 40 Jahre später ergriffen den Hut abnehmen.
Ich darf mich beim Eigentümer der TO E51664 ganz herzlich bedanken für alles, was er mir in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft gezeigt und vermittelt hat – Hut ab!
So endet der Bericht, wie er angefangen hat: Grau Freund ist alle Theorie!
E. Marquart / 5.2010