Nostalgie auf Französisch – allerdings ohne sportlichen Anspruch
Die deutsche Übersetzung des französischen Zeitwortes ralli heißt sammeln. Ausgehend von diesem Begriff hat sich die automobile Sportwelt eine im Laufe der Zeit eigene Deutung zurechtgelegt. War es zu Beginn des vorigen Jahrhunderts bereits eine heroische Leistung, sich nach längerer Anreise an einem bestimmten Ort (z.B. Monte Carlo) zu einer bestimmte Zeit (z.B. im Jänner) zu sammeln, so ließ die technologische Entwicklung des Automobils bis ungefähr zum Ende der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts diesen Heroismus langsam in den Hintergrund treten. Das schiere Erreichen des Ziels brachte keine Selektion mehr zwischen den Teilnehmern, denn schließlich musste irgendeiner der Beste (= Sieger?) sein. Also wurden Prüfungen ersonnen, um die notwendige Selektion durchzuführen: zuerst Geschicklichkeitsprüfungen wie Slaloms, Brems- und Beschleunigungsprüfungen, dann Bergprüfungen und schließlich Sonderprüfungen über alle Arten von Straßen (bergauf, bergab, auf jedem Straßenbelag, bei jedem Wetter und jeder Tages- und Nachtzeit schlicht auf die schnellste Zeit).
Die Franzosen entwickelten im Laufe der Jahre eine Reihe von Rallye-Veranstaltungen, die teilweise (Monte Carlo, Korsika) oder nicht mehr (Coupe des Alpes, Tour de France) bis heute überlebt haben, in jedem Fall Top-Bewerbe für Werkteams und ambitionierte Amateure waren. Speziell der Coupe des Alpes war ein mehrtägiges „Bergrennen“, das immense Heraus-forderungen an Teilnehmer und Fahrzeuge stellte, weil steile Bergstraßen mit irren Schnitten in hochverdichteten Tagesetappen zu bewältigen waren. Hauptziel der Teilnehmer war es, die Etappen ohne Verspätung (= Strafpunkte) zu bewältigen, die Zeiten der Sonderprüfungen wurden zur Selektion der Strafpunktefreien herangezogen. Der „Coupe d’Or“ für die dreimalige aufeinanderfolgende Bewältigung der Rallye ohne Strafpunkte war ein hochbegehrtes Ziel. Anfang der 70er-Jahre starb der Bewerb an Sponsormangel und anachronistischer Konzeption (siehe auch Österreichische Alpenfahrt 1973).
Der Pariser Veranstalter Rallystory veranstaltet in Fortführung der Tradition der genannten Rallyes seit einigen Jahren Bewerbe für Oldtimer, die Namen und Straßen der früheren Rallyes nutzen und den Geist der 60er-Jahre aufleben lassen sollen.
Als Teilnehmer der österreichischen Oldtimer-Szene suche ich seit einiger Zeit interessante Bewerbe, weil das österreichische Angebot beschränkt ist (1000 Minuten Klassik, Viva Italia, Biedermannsdorf) oder sich in eine Richtung entwickelt, wo nur noch Umfeld und Namen zählen (Ennstal-Classic, Kitzbühl, Silvretta), der Sport jedoch eher zurücktritt. Nach Besuchen in Deutschland (Bavaria Historic, Eifel-Rundfahrt) und Tschechien (Jarni-Rallye) bin ich nach längerem Suchen (Preis/Leistungsverhältnis!) auf den Coupe des Alpes gestoßen, habe meinen Freund Peter Pech „motiviert“ mit seiner Fulvia 1600 HF Baujahr 1972 teilzunehmen, als mitzahlender Beifahrer konnte ich Freud und Leid mit Peter Pech teilen.
Erprobt aus österreichischen Oldtimer-Bewerben und mit dem Wissen über die heroische Geschichte des Coupe des Alpes reisten wir Ende Juni 2002 nach Evian les Bains am Genfer See und erwarteten einen „beinharten“ Oldtimer-Bewerb mit diffizilen Uhrenspielchen. Um es kurz zu machen: Wir verbrachten 2 1/2 sportlich angehauchte Fahrtage über ca. 1.000 km in den französischen Alpen im Kreis von 220 weiteren Teilnehmern mit hochkarätigem Automaterial, keine gezeiteten Etappen, nur Passierkontrollen, ein ca. 25 Sekunden-langer Slalom zur nicht nachvielziehbaren Selektion, keine Gleichmäßigkeitsprüfungen – dafür Essen und Trinken wie der „Herrgott in Frankreich“!
Alleine die Aufstellung der Fahrzeuge vor dem Start in Evian war eine tolle Inszenierung. Nach Herstellerländern getrennt wurden die Autos geparkt: ca. 85 Engländer (vom AC-Bristol über MG, Austin Healey, Daimler, Super Seven, Morgan bis Jaguar), ca. 50 Italiener (3 Fulvias, 2 Flavias, 1 rally 037, 2 Stratos, Alfas, 4 Fiat 124 Abarth, Ferraris von 250 SWB bis Daytona, Maserati und …), 40 Porsche (911 in jeder Schattierung, 356, 914/6) und relativ wenigen Franzosen (Alpine, R8 Gordini) und der Rest der sportlichen Autowelt.
Gran Tourisme á la Francaise brachte eine Reihe von neuen Erfahrungen, die größtenteils das Nenngeld wert waren. Gute Organisation, franzözische Leichtigkeit und Eleganz bei der Bewältigung von „Problemen“, charmanter Chauvinismus, ausgezeichnete Bewirtung mit Steigerung bis zum Galadinner auf der Dachterrasse des Grand Hotels in Monte Carlo mit Blick auf Grimaldipalast, Casino und das Mittelmeer. Sehr interessante Straßen, zum Teil frühere Sonderprüfungen, herrliche Bergwelt (die man sonst nur von den Berichten aus der Schi-Welt kennt) bis zum Höhepunkt Col de l’Iseran mit 2.764 m – alles ohne Zeitdruck, mit Champagner-Pausen unter dem Motto: Beim Mittagessen/Abendessen um xx Uhr treffen wir einander wieder! Polizei war kaum zu sehen, zum Teil fuhren die Teilnehmer jenseits von Gut und Böse, ließen ihre hochkarätigen Geräte brüllen und fliegen. Unsere Fulvia 1600 HF wurde meistens sehr freundlich bewundert, ein Auto mit Geschichte und Flair und für die Zuschauer im Gegensatz zu den Ferraris und Jaguars „greifbar und erreichbar“.
Ob wir die Teilnahme am Coupe des Alpes empfehlen können? Das hängt von den Zielsetzungen des Interessenten ab: Oldtimer-Sportlern sei abgeraten, weil der Wettbewerbsansatz fehlt. Sportlichen Touristen sei die Veranstaltung empfohlen, weil Ambiente, Unterbringung, Streckenwahl und fehlender Wettbewerbsdruck sogar die Mitnahme der Ehefrau/LAP als angemessen erscheinen lassen. Anreise bis Feldkirch mit Autozug, dann 400 km per Achse bis Evian in ca. 4 1/2 Stunden. Die Rückreise von Monte Carlo über ca. 1.200 km sollte als gemütliche Fahrt mit einer Nächtigung (z.B. im Friaul) angelegt werden. Kosten in Summe ca. 3.000 EURO.
Gran Tourismo mit Lancia, unsere Fulvia wurde diesem Motto gerecht, machte ordentlich Lärm, zeitweise etwas Sorgen (35 Grad Außentemperatur, 2.700 m Seehöhe, zu breite Reifen), aber auch viel Spaß! Nur die Klimaanlage war nicht auf unter 40 Grad einzustellen oder haben wir die Bedienungsanleitung nicht gewissenhaft genug gelesen?
E. Marquart/07.2002